Kündigung von Schwerbehinderten in der Probezeit: Rechte und Schutzbestimmungen

Einleitung und Relevanz des Themas

Die Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer in der Probezeit ist ein häufig missverstandener Bereich des Arbeitsrechts. Viele gehen davon aus, dass schwerbehinderte Menschen von Beginn an besonderen Kündigungsschutz genießen. Tatsächlich gilt jedoch während der ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses - der sogenannten Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG - kein besonderer Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen.

Diese Regelung sorgt oft für Verwirrung, da sie scheinbar im Widerspruch zu dem grundsätzlichen Schutzgedanken des Schwerbehindertenrechts steht. Für betroffene Arbeitnehmer ist es daher entscheidend zu verstehen, wann und unter welchen Umständen der besondere Kündigungsschutz tatsächlich greift.

Die Wartezeit-Regelung bedeutet jedoch nicht, dass schwerbehinderte Menschen in der Probezeit völlig schutzlos sind. Andere arbeitsrechtliche Bestimmungen wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) oder allgemeine Kündigungsschutzbestimmungen können weiterhin Anwendung finden.

Das Wichtigste im Überblick

Wartezeit-Regelung: Schwerbehinderte Menschen haben während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses (Wartezeit) keinen besonderen Kündigungsschutz - auch nicht in der Probezeit 

Besonderer Schutz ab dem 7. Monat: Der besondere Kündigungsschutz mit Zustimmungserfordernis des Integrationsamtes gilt erst nach Ablauf der ersten sechs Monate 

Ausnahmen beachten: Bestimmte Situationen können trotz Wartezeit zu Schutzansprüchen führen, etwa bei bereits gestellten Anträgen vor Kündigung

Rechtliche Grundlagen des Kündigungsschutzes

Definition der Schwerbehinderung im Arbeitsrecht

Das Fundament des Kündigungsschutzes bildet die rechtliche Definition der Schwerbehinderung im Sozialgesetzbuch IX. Menschen gelten nach § 2 Abs. 2 SGB IX als schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 festgestellt wurde. Diese Feststellung erfolgt durch das zuständige Versorgungsamt nach einem förmlichen Antragsverfahren.

Darüber hinaus können Menschen mit einem geringeren Grad der Behinderung von 30 oder 40 nach § 2 Abs. 3 SGB IX schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden. Diese Gleichstellung muss bei der Bundesagentur für Arbeit beantragt werden und setzt voraus, dass die betroffene Person ohne diese Gleichstellung keinen geeigneten Arbeitsplatz erlangen oder behalten kann.

Für den arbeitsrechtlichen Schutz ist entscheidend, dass der Status der Schwerbehinderung oder Gleichstellung amtlich festgestellt wurde. Dabei reicht es aus, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung ein Antrag drei Wochen vor Zugang der Kündigunggestellt war und die Voraussetzungen objektiv vorlagen, auch wenn der Bescheid erst später erteilt wird.

Kernregelungen des besonderen Kündigungsschutzes

Der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen ist im Sozialgesetzbuch IX umfassend geregelt. Das Herzstück bildet § 168 SGB IX, der bestimmt, dass jede Kündigung eines schwerbehinderten Menschen der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedarf. Diese Regelung erfasst sowohl ordentliche als auch außerordentliche Kündigungen und ist unabhängig vom jeweiligen Kündigungsgrund anwendbar.

Die zentrale Ausnahme von diesem Schutz findet sich in § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX: Der besondere Kündigungsschutz gilt nicht, wenn das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt der Kündigung ohne Unterbrechung noch nicht länger als sechs Monate bestanden hat. Diese sogenannte Wartezeit entspricht häufig der vereinbarten Probezeit, ist aber rechtlich davon zu unterscheiden.

Wichtig zu verstehen ist, dass auch während dieser ersten sechs Monate bestimmte Schutzbestimmungen greifen, insbesondere die Anhörungspflicht der Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 SGB IX und eine Anzeigepflicht beim Integrationsamt.

Probezeit und arbeitsrechtliche Besonderheiten

Die Probezeit als arbeitsrechtliches Institut ermöglicht beiden Vertragsparteien eine gegenseitige Erprobung. Nach § 622 Abs. 3 BGB kann während einer vereinbarten Probezeit, längstens für die Dauer von sechs Monaten, das Arbeitsverhältnis mit einer verkürzten Kündigungsfrist von zwei Wochen beendet werden.

Während der Probezeit gelten grundsätzlich erleichterte Kündigungsbedingungen: Es bedarf keines besonderen Kündigungsgrundes nach dem Kündigungsschutzgesetz, und die allgemeinen Kündigungsfristen sind verkürzt. Diese Erleichterungen gelten jedoch nicht uneingeschränkt für schwerbehinderte Arbeitnehmer.

Die rechtliche Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG von sechs Monaten, in der der allgemeine Kündigungsschutz nicht gilt, ist von der arbeitsvertraglich vereinbarten Probezeit zu unterscheiden. Beide Institute fallen zeitlich oft zusammen, haben aber unterschiedliche rechtliche Grundlagen und Auswirkungen.

Zusammenspiel der Schutzbestimmungen in der Praxis

Das Verhältnis zwischen dem besonderen Kündigungsschutz nach SGB IX und den Probezeitregelungen führt zu einem differenzierten Schutzregime. Während der ersten sechs Monate besteht zwar kein Anspruch auf Zustimmung des Integrationsamtes, jedoch gelten andere wichtige Schutzbestimmungen weiter.

Ein entscheidender Faktor ist die Kenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderung. Ist die Schwerbehinderung dem Arbeitgeber unbekannt, muss der Arbeitnehmer spätestens innerhalb vondrei Wochen - nach Zugang der Kündigung auf seine Schwerbehinderteneigenschaft hinweisen, um nachträglichen Schutz zu erlangen.

Aktuelle Rechtsprechung hat zudem klargestellt, dass auch während der Wartezeit bestimmte Präventionspflichten bestehen und angemessene Vorkehrungen zu prüfen sind, bevor eine Kündigung ausgesprochen werden kann.

Zustimmungsverfahren des Integrationsamtes

Nach Ablauf der Wartezeit prüft das Integrationsamt bei einer beantragten Kündigung, ob diese gerechtfertigt ist. Dabei werden verschiedene Kriterien herangezogen, insbesondere ob die Kündigung im Zusammenhang mit der Behinderung steht.

Das Zustimmungsverfahren ist in § 168 ff. SGB IX geregelt. Während des Verfahrens besteht gemäß § 169 SGB IX ein Kündigungsverbot. Eine Kündigung ohne die vorherige Zustimmung des Integrationsamts ist gemäß § 134 BGB grundsätzlich nichtig.

Hauptaspekte und wichtige Teilbereiche

Ausnahmen und Besonderheiten in der Wartezeit

Obwohl während der Wartezeit grundsätzlich kein besonderer Kündigungsschutz besteht, gibt es einige wichtige Ausnahmen und Besonderheiten:

Bereits gestellte Anträge: Nach § 173 Abs. 3 SGB IX kann der besondere Kündigungsschutz unter bestimmten Voraussetzungen auch greifen, wenn der Antrag auf Schwerbehinderung vor Zugang der Kündigung gestellt wurde, auch wenn der Bescheid erst später erteilt wird.

Diskriminierungsschutz: Auch in der Wartezeit gilt das Verbot der Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Eine Kündigung allein aufgrund der Behinderung kann eine unzulässige Benachteiligung darstellen.

Anhörungsrechte: Die Schwerbehindertenvertretung muss nach § 178 Abs. 2 SGB IX vor jeder Kündigung eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber angehört werden - auch während der Wartezeit. Auch der Betriebsrat ist anzuhören.

Besonderheiten nach der Wartezeit

Nach Ablauf der ersten sechs Monate greifen die vollen Schutzbestimmungen des SGB IX:

Zustimmungserfordernis: Jede Kündigung bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes nach § 168 SGB IX.

Präventionsauftrag: Arbeitgeber sind verpflichtet, vor einer Kündigung zu prüfen, ob alternative Maßnahmen möglich sind. Dies kann die Anpassung des Arbeitsplatzes, Fortbildungsmaßnahmen oder eine Versetzung umfassen.

Dokumentationspflichten: Arbeitgeber müssen die Gründe für eine Kündigung sorgfältig dokumentieren, insbesondere wenn sie geltend machen, dass die Kündigung nicht behinderungsbedingt ist.

Rolle der Schwerbehindertenvertretung

Die Schwerbehindertenvertretung spielt eine wichtige Rolle auch während der Wartezeit:

Die Schwerbehindertenvertretung muss bei jeder Kündigung eines schwerbehinderten Menschen angehört werden – unabhängig davon, ob sich der Arbeitnehmer noch in der Wartezeit befindet. Auch während der Wartezeit ist eine fehlende oder nicht ordnungsgemäße Beteiligung ein Unwirksamkeitsgrund für die Kündigung.

Die Schwerbehindertenvertretung kann auch präventiv tätig werden und bei auftretenden Problemen vermitteln, um Kündigungen zu vermeiden.

Typische Fallkonstellationen mit Lösungsansätzen

Kündigung in den ersten sechs Monaten

Situation: Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer erhält in den ersten vier Monaten des Arbeitsverhältnisses eine Kündigung.

Rechtliche Bewertung: Der besondere Kündigungsschutz nach SGB IX greift nicht. Die Kündigung ist nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Bestimmungen zu bewerten.

Lösungsansatz: Prüfung, ob die Kündigung diskriminierend ist oder gegen andere arbeitsrechtliche Bestimmungen verstößt. Kontaktaufnahme zur Schwerbehindertenvertretung und rechtliche Beratung.

Kündigung nach der Wartezeit

Situation: Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer erhält nach acht Monaten Betriebszugehörigkeit eine Kündigung.

Rechtliche Bewertung: Der besondere Kündigungsschutz gilt voll. Die Kündigung ist nur mit vorheriger Zustimmung des Integrationsamtes wirksam.

Lösungsansatz: Prüfung, ob die Zustimmung vorliegt. Bei fehlender Zustimmung ist die Kündigung unwirksam. Kündigungsschutzklage innerhalb von drei Wochen.

Antrag während der Wartezeit

Situation: Ein Arbeitnehmer stellt während der Wartezeit einen Antrag auf Schwerbehinderung und erhält danach eine Kündigung.

Rechtliche Bewertung: Unter bestimmten Voraussetzungen kann nach § 173 Abs. 3 SGB IX der besondere Kündigungsschutz greifen.

Lösungsansatz: Sofortige rechtliche Beratung und Prüfung, ob die Voraussetzungen für den nachträglichen Kündigungsschutz vorliegen.

Praktische Tipps für Betroffene

Für schwerbehinderte Arbeitnehmer

Rechtzeitige Offenlegung: Informiere deinen Arbeitgeber jedenfalls nach sechs Monaten über deine Schwerbehinderung. Eine nachträgliche Offenlegung kann zu Komplikationen führen, auch wenn sie rechtlich möglich ist.

Dokumentation: Führe ein Arbeitsjournal, in dem du deine Tätigkeiten und eventuelle Probleme dokumentierst. Dies kann bei späteren Auseinandersetzungen hilfreich sein.

Wartezeit beachten: Verstehe, dass du während der ersten sechs Monate keinen besonderen Kündigungsschutz hast, aber andere Rechte weiterhin bestehen.

Unterstützung suchen: Wende dich bei Problemen an die Schwerbehindertenvertretung oder an eine auf Arbeitsrecht spezialisierte Anwaltskanzlei.

Für Arbeitgeber

Keine Unterschiede während der Wartezeit: Behandle schwerbehinderte Arbeitnehmer während der Wartezeit nicht anders als andere Arbeitnehmer.

Anhörungspflichten beachten: Höre auch während der Wartezeit die Schwerbehindertenvertretung an.

Diskriminierung vermeiden: Achte darauf, dass Kündigungen nicht diskriminierend sind, auch wenn kein besonderer Kündigungsschutz besteht.

Frühzeitige Beratung: Hole dir bei Unsicherheiten professionelle Beratung, bevor du Kündigungen aussprichst.

Checkliste für schwerbehinderte Arbeitnehmer

Vor Arbeitsantritt

  • Schwerbehindertenausweis oder Gleichstellungsbescheid bereithalten
  • Arbeitgeber über Schwerbehinderung informieren
  • Kontakt zur Schwerbehindertenvertretung aufnehmen
  • Wartezeit von sechs Monaten beachten

Während der Wartezeit (erste 6 Monate)

  • Verstehen, dass kein besonderer Kündigungsschutz besteht
  • Regelmäßige Gespräche mit dem Vorgesetzten führen
  • Arbeitsleistung und -verhalten dokumentieren
  • Auf Diskriminierung achten

Nach der Wartezeit

  • Vollständigen Kündigungsschutz nutzen
  • Bei Kündigung Zustimmung des Integrationsamtes prüfen
  • Schwerbehindertenvertretung informieren
  • Rechtliche Beratung einholen

Bei Kündigung

  • Keine voreiligen Entscheidungen treffen
  • Kündigungsschutzklage innerhalb von drei Wochen prüfen
  • Alle Dokumente sammeln und sichern
  • Professionelle Hilfe suchen

Häufig gestellte Fragen

Nein, während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses (Wartezeit) gilt nach § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX kein besonderer Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen, auch nicht in der Probezeit.

Nein, die Wartezeit von sechs Monaten ist gesetzlich festgelegt und kann nicht verlängert werden. Sie ist unabhängig von einer eventuell vereinbarten Probezeit.

Ein automatischer Anspruch auf Abfindung besteht nicht. Bei einer unwirksamen Kündigung kannst du die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses verlangen oder eine Abfindung verhandeln..

Du bist nicht grundsätzlich verpflichtet, deine Schwerbehinderung offenzulegen. Allerdings kannst du nach der Wartezeit nur dann den besonderen Kündigungsschutz in Anspruch nehmen, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderung weiß.

Eine diskriminierende Kündigung liegt vor, wenn sie allein oder hauptsächlich aufgrund der Behinderung erfolgt. Dies kann auch während der Wartezeit unzulässig sein.

Die Kündigung ist nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Bestimmungen zu bewerten. Der besondere Kündigungsschutz nach SGB IX greift nicht, aber andere Schutzbestimmungen wie das AGG können weiterhin anwendbar sein.

Suche umgehend rechtliche Beratung und prüfe, ob die Kündigung diskriminierend ist oder andere Rechte verletzt. Informiere die Schwerbehindertenvertretung und beachte die Fristen für eine Kündigungsschutzklage.

Die Schwerbehindertenvertretung muss nach § 178 Abs. 2 SGB IX vor jeder Kündigung angehört werden, auch während der Wartezeit. Sie kann Stellungnahmen abgeben und sich für deine Interessen einsetzen.

Das Integrationsamt hat grundsätzlich einen Monat Zeit für die Entscheidung. In besonderen Fällen kann diese Frist verlängert werden.

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